Hinweise für Pädagog*innen

Von Andreas Hechler (Bildungsreferent, Berlin)

In diesem Text wird sich vor allem mit den Voraussetzungen für unterstützende pädagogische Arbeit auseinandergesetzt.

Wie Intergeschlechtlichkeit in Bildung und Lehre integriert werden kann, finden Sie hier. Wir haben zudem auch Dos und Don‘ts für Lehrkräfte und Pädogog*innen zusammengestellt.

1. Pädagogik und Intergeschlechtlichkeit

In unserer Gesellschaft ist der Bildungs- und Erziehungsbereich wesentlich an der Formung von Geschlechterverständnissen beteiligt und wirkt bislang an der Unsichtbarkeit intergeschlechtlicher Personen systematisch mit. Es gibt in der Pädagogik, Erziehung, Bildung und sozialen Arbeit nach wie vor kaum Literatur und Material zum Thema Intergeschlechtlichkeit. Es wird, wenn überhaupt, als „Spezial-“, „Rand-“ und/oder „Minderheitenthema“ gesehen.

Das dominante Wissensfeld, in dem Intergeschlechtlichkeit verhandelt wird, ist nach wie vor die Medizin. Aber auch Mediziner*innen und andere Berufsgruppen, die mit Intergeschlechtlichkeit zu tun haben (Jurist*innen, Politiker*innen, Pflegepersonal, …), durchlaufen Bildungsinstitutionen. Zugleich gibt es auch in Bildungsinstitutionen intergeschlechtliche Menschen – als Lehrende/Pädagog*innen und als Lernende/Teilnehmende.

Von daher gilt es:

1. Lernen über Intergeschlechtlichkeit zu ermöglichen (sensibilisieren, Selbstreflexion anregen, eigene Werte reflektieren, Wissen vermitteln, Handlungssicherheit herstellen);

2. zu fragen, wie die Unterstützung intergeschlechtlicher Menschen in pädagogischen Feldern aussehen kann und;

3. Eltern und familiäre Umfelder von Inter* zu unterstützen.

Kernziel wäre in allen drei Fällen dazu beizutragen, dass Intergeschlechtlichkeit angst- und diskriminierungsfrei gelebt werden kann.

In einem größeren Rahmen geht es einer Pädagogik der Vielfalt um Inklusion und Anerkennung des Anderen – in diesem Fall Inter* – in der Differenz und die Akzeptanz menschlicher Vielfalt im Allgemeinen und menschlicher Körper im Besonderen.

2. Voraussetzungen

Die Ausführungen dieses Teils richten sich an endogeschlechtliche Fachkräfte, also Menschen die in die medizinische Definition von männlich oder weiblich passen.

Bei intergeschlechtlichen Fachkräften kann davon ausgegangen werden, dass sie die im Folgenden ausgeführten Voraussetzungen erfüllen.

Eigenes Lernen und Selbstreflexion

Soll ein Lernen über Intergeschlechtlichkeit ermöglicht werden, sind die primäre Zielgruppe zunächst die Lehrenden/Pädagog*innen selbst. Es geht darum, sich von vertrauten Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten zu lösen, den Blick umzukehren von anderen (der Zielgruppe/Schüler*innen/Teilnehmenden /dem behandelten Thema/Inter*, …) auf sich selbst, autobiografisch zu arbeiten und sich selbstreflexiv die eigene geschlechtliche Gewordenheit und die daran gekoppelten Vorstellungen von Geschlecht zu vergegenwärtigen. Hierbei geht es mitnichten nur um eine rein kognitive Auseinandersetzung, sondern auch um emotional-psychische Lern- und Veränderungsprozesse.

Bleibt dieser notwendige Schritt aus, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass pädagogische Fachkräfte ihre Themen mit Geschlecht in externalisierender Weise an Inter* abhandeln. Es ist leider nach wie vor so, dass die Vielfalt menschlicher Körper, Existenz- und Verhaltensweisen, die im Zweigeschlechtersystem nicht aufgehen (können), bei vielen „Männern“ und „Frauen“ eine Identitätskrise nach der nächsten auszulösen scheint, die mit verdeckter bis offener Aggression denjenigen gegenüber abgewehrt wird, die von der Norm „zu weit“ entfernt sind.

Es ist sinnvoll, andere Personen um Begleitung in dieser Auseinandersetzung zu bitten bzw. sich Menschen zu suchen, die diese Auseinandersetzung schon länger führen und von ihnen zu lernen. Erst wenn dem Blickregime der „Normalen“ auf „abnorm“ konstruierte Körper ein Spiegel vorgehalten und sich von dem Wunsch gelöst wurde, über das Geschlecht eines anderen Menschen bestimmen zu wollen,

– kann ein unterstützender Kontakt mit intergeschlechtlichen Menschen möglich sein;

– können andere Menschen (die eigenen Zielgruppen) in dieser Auseinandersetzung begleitet werden.

Ziel ist nicht „Toleranz“ für eine kleine Minderheit, sondern die eben skizzierte selbstreflexive Auseinandersetzung eigener Vorstellungen, Existenz- und Verhaltensweisen mit einer grundsätzlichen Infragestellung von Norm und Abweichung, schlussendlich also die Erkenntnis, dass man selbst „verschieden“ ist. Dieser Prozess ist lebenslang – auch als lehrende Person bleibt man lernend und es ist sinnvoll, dies als Selbstbild zu inkorporieren. Die damit einhergehende Selbstsicherheit minimiert die Angst vor „anderen“ geschlechtlichen Gewordenheiten und Existenzweisen.

Aneignung von Wissen

Um lehren zu können und auch für die eigene Auseinandersetzung, ist es ebenso notwendig, sich Wissen anzueignen. Dazu gehören zumindest rudimentäre Grundlagen aktueller Geschlechtertheorie, Medizin- und Rechtskritik und insbesondere das Zuhören der Erzählungen und Analysen intergeschlechtlicher Menschen – live, in Form von Texten, biografischen Berichten, Dokumentationen, Clips und anderen Medienbeiträgen. U. a. sollte verstanden werden, dass

  • beim Lehren und Lernen über Intergeschlechtlichkeit der gesellschaftliche Umgang mit Inter* im Vordergrund steht und nicht etwa individuelle Diagnosen oder Krankheitsbilder;
  • die „Normalisierung“ von Aussehen Hand in Hand mit der Stigmatisierung von Differenz geht;
  • der Präventionsgedanke der Medizin (Eingriffe, damit das Kind später keine Probleme hat) Unsinn ist – vielmehr schaffen die Eingriffe überhaupt erst die Probleme;
  • die große Mehrheit intergeschlechtlicher Menschen, die ohne geschlechtsverändernde Eingriffe aufwuchs, gesund ist;
  • Kinder/Jugendliche/Erwachsene immer noch intergeschlechtlich sind, selbst wenn es noch so viele „normalisierende“ Eingriffe durch die Medizin gegeben hat;
  • sich Intergeschlechtlichkeit pränatal, direkt nach der Geburt, in der Pubertät oder auch nach der Pubertät zeigen kann;
  • die zentrale Forderung intergeschlechtlicher Organisationen die nach einem Verbot bis zur Volljährigkeit von irreversiblen ärztlichen Eingriffen ist, die die Veränderung der angeborenen geschlechtlichen Merkmale oder der Fortpflanzungsfunktion des Kindes zur Folge haben;
  • es weder um Transgeschlechtlichkeit noch um sexuelle Vielfalt geht und Toilettenfragen, der dritte Geschlechtseintrag etc. im Vergleich zur zuvor genannten Kernforderung nachrangig sind;
  • Tabuisierung Scham produziert;
  • es auch um die eigene Sprache und verwendete Begriffe geht; nicht als Selbstzweck, Kosmetik oder Erfüllung von Codes, sondern aus einer Haltung der Vielfalt wird als logische Konsequenz eine Sprache der Vielfalt.

(Diese Aufzählung ist notwendigerweise unvollständig.)

Genaueres zu Inter* in der Lehre findet sich hier. Wir haben zudem Dos und Don´ts für pädagogische Fachkräfte zusammengestellt.

3. Haltung

Pädagogische Fachkräfte sind als Verbündete von intergeschlechtlichen Menschen gefragt. Zentrale Botschaft und innere Haltung sollten sein: „Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst.“ Kommt es zu einem Outing, ist es wichtig zu verstehen, dass man von vielen anderen als Vertrauensperson ausgewählt wurde und diesbezüglich Verantwortung trägt.

Zugleich sollte verkraftet werden, wenn man nicht nach Unterstützung gefragt wird.

Darüber hinaus sind folgende Tätigkeiten und Aspekte von Relevanz:

Begleiten

Die vielleicht wichtigste Tätigkeit pädagogischen Handelns überhaupt ist die Begleitung. Gemeinsam werden mit Kindern und Jugendlichen ihre Vorstellungen vom eigenen Weg reflektiert und sie werden in diesem begleitet – dies trifft sowohl auf inter- als auch endogeschlechtliche Kinder und Jugendliche zu.

Empathie, Annahme und Aufklärung

Vielen inter* Menschen ist ein Übermaß an Pathologisierung, medizinischer und sozialer Gewalt als auch Leugnung und Bagatellisierung dieser Gewalt widerfahren – zum Teil mit tiefgreifenden Folgen (Traumatisierung, Entfremdung, innerfamiliäre Tabuisierung, Verunsicherung, Einsamkeit etc.). Im Kern geht es daher um Empathie und Verständnis für das Widerfahrene und die Schaffung nicht-pathologisierender Räume, in denen zentrale Werte wie Selbstakzeptanz, Überwindung der Isolation durch Austausch mit Anderen in ähnlichen Situationen (Peer-Ansatz) und Wahrhaftigkeit (im Gegensatz zur Tabuisierung, Falschinformationen und dem Schweigen) gelebt werden können.

In geeigneten Situationen kann darüber aufgeklärt werden, was Inter* sind: Ganz gewöhnliche Individuen, die vollkommen okay sind, die glücklich und zufrieden sein dürfen und sollen und die in bestimmten Aspekten von einer zweigeschlechtlichen Körpernorm abweichen. Dies hat den wichtigen Effekt, dass das Schweigetabu, die Geheimhaltung und das systematische Lügen durchbrochen werden. Im besten Fall findet eine Entlastung durch Erklärung gesellschaftlicher Verhältnisse statt, indem vermittelt werden kann, dass nicht sie das „Problem“ sind, sondern dass es diese Gesellschaft selbst ist, die an der Vielfalt menschlicher Körper und Geschlechter scheitert.

Definitionsmacht

Die Definitionsmacht darüber, wer eine Person ist und wer sie*er sein möchte, ist ohne Einschränkungen in die Hände von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen selbst zu legen. Es ist ganz prinzipiell bei allen Menschen darauf zu achten, dass diese sich ihr Geschlecht selbst wählen dürfen, und zwar jederzeit, und auch immer wieder neu. Weder die Eltern(teile) noch Mediziner*innen noch Jurist*innen sollten das Geschlecht eines Kindes definieren und festlegen. Die eigentlichen Expert*innen sind die jeweiligen Menschen selbst, und ihnen muss Entscheidungsmacht über ihr Leben zurückgegeben werden. Das ist auch genauso gegenüber allen zu vertreten.

Diese Haltung ist auch gegenüber pädagogischen Institutionen anzuraten, in denen nach wie vor allzu oft genau beobachtet wird, ob die Geschlechtsentwicklung bei (inter*) Kindern „normal“ verläuft, d. h., ob diese sich traditionell „männlich“ oder „weiblich“ verhalten, spielen, anziehen und reden. Die permanente Angst, das Kind könnte sich „untypisch“ verhalten und der damit einhergehende Druck, werden durch die Verschiebung der Definitionsmacht auf die Kinder/Jugendlichen aufgelöst, was nicht nur für inter* Kinder / -Jugendliche, sondern auch für die gesamten Umfelder (Eltern, Ärzt*innen, Peers, …) eine wichtige Entlastung schafft.

Schutz bieten und Position beziehen!

Sowohl aus der Neonazismusprävention als auch aus der Begleitforschung zu LSBTQIA+-Aufklärungsprojekten ist bekannt, dass diskriminierende Einstellungen von Kindern und Jugendlichen abnehmen, je deutlicher pädagogische Fachkräfte Position gegen Diskriminierung beziehen.

In Fällen von Übergriffen ist von pädagogisch Tätigen Schutz zu gewährleisten. Dies erstreckt sich nicht nur auf Beleidigungen, Angriffe, Bullying, Mobbing und dergleichen, sondern auch auf medizinische Eingriffe und Verletzungen der Intimsphäre, sofern diese noch stattfinden – hier sollte auf einen Stopp der Ärzt*innenbesuche gedrängt und bei Bedarf bei der Suche nach Alternativen unterstützt werden.

Es darf auf gar keinen Fall (!) zu ungewollten Outings kommen oder gar zum Zwang, etwas über sich erzählen zu müssen. Wenn sich eine intergeschlechtliche Person Ihnen gegenüber öffnet, besprechen Sie Unterstützungswünsche und -möglichkeiten. Nehmen Sie dabei Selbstbestimmungswünsche sehr ernst, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass sehr vielen inter* Menschen Selbstbestimmung häufig in extremer Weise unmöglich gemacht wurde.

Wenn ein*e Inter* Lust hat, etwas zu seinem*ihrem Körper, OPs, Sexleben und dergleichen zu erzählen, wird er*sie das tun – danach zu fragen ist nicht okay! Okay und wichtig ist hingegen, darüber aufzuklären, dass derartige sensationslüsterne Fragen oft übergriffig sind.

Peer-Kontakte und Empowerment fördern

Pädagogisch Tätige, die selbst nicht intergeschlechtlich sind, sollten darauf hinarbeiten, dass intergeschlechtliche Kinder und Jugendliche, für die sie eine Verantwortung haben, Kontakt zu anderen intergeschlechtlichen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bekommen. Inter*-Peergroups, Pat*innen, Unterstützungs- und Selbstorganisationen sollten ausfindig gemacht und Treffen ermöglicht werden. Von sehr vielen inter* Menschen wird das Kennenlernen von anderen inter* Menschen als enorm wichtiger, stärkender und hilfreicher Selbstermächtigungsprozess beschrieben. Eine besondere Bedeutung für Vernetzung haben in dieser Hinsicht auch Online-Communities.

Derartige Kontakte und Selbstorganisierungen können nicht nur dazu beitragen, dass intergeschlechtliche Menschen enorm gestärkt werden, sondern auch dazu, dass sie sich überhaupt erst voll und ganz als Inter* begreifen (lernen). Dies ist zumeist ein langer Weg, erschwert doch die Verhinderung des ursprünglichen Körpers und die immer wiederkehrende Frage „Was wäre wenn, …“ einen positiven Bezug auf Intergeschlechtlichkeit.

Erfolgt kein Kontakt zu inter* Communities, werden Vereinzelung und Einsamkeitsgefühle bewusst in Kauf genommen.

Fehlerfreundlichkeit mit sich selbst

Ansonsten gilt, wie sonst auch: Wohlwollen mit sich selbst. Widerspruchsfreies Handeln ist nur selten möglich und die Grenzen zwischen gut gemeint und nicht so gut gemacht sind oft fließend und lassen sich individuell nicht aufheben; sind also kein persönliches Versagen, sondern strukturell angelegt. Dies betrifft beispielsweise die Beschäftigung mit Intergeschlechtlichkeit, die einerseits „total spannend“ sein kann und andererseits exotisierend oder die Beschreibung von Diskriminierungen und Unrecht einerseits und der Produktion von Opferidentitäten andererseits. Diese Dilemmata auszuhalten und sinnvoll zu navigieren ist besser, als sie nach einer Seite hin aufzulösen und sich damit selbst handlungsunfähig zu machen und das Thema Intergeschlechtlichkeit als „zu kompliziert“ zu verwerfen.

4. Eltern-/Familienarbeit

Pädagogik heißt häufig auch Elternarbeit. Mit Blick auf Studien zu transgeschlechtlichen, homo- und bisexuellen Jugendlichen kann davon ausgegangen werden, dass die elterliche und familiäre Akzeptanz und Unterstützung auch für intergeschlechtliche Kinder und Jugendliche von großer Wichtigkeit sind. Zugleich gibt es bislang kaum professionelle Unterstützungsangebote – weder für Inter* selbst noch für Eltern, andere Verwandte oder nahe Bezugspersonen. Sozial(pädagogisch)e, erzieherische und Bildungsarbeit sollte hier – wie sonst auch – die familiären Umfelder in die Arbeit mit einbeziehen.

Eltern sind als Verbündete und Anwält*innen ihrer intergeschlechtlichen Kinder gefragt – das sollte ihnen verdeutlicht werden. Zugleich sind sie diejenigen, die hierfür Unterstützung benötigen. Viele Eltern intergeschlechtlicher Kinder fühlen sich alleine gelassen und benötigen Stärkung. Es ist sinnvoll, wenn sich Eltern ein Unterstützungsnetzwerk aufbauen, insbesondere mit anderen Eltern, die ein intergeschlechtliches Kind haben.

Eltern intergeschlechtlicher Kinder sollten u.a.

  • wissen, dass sie Zeit haben. Sie sollten sich nicht von Ärzt*innen zu schnellen und irreversiblen medizinischen Maßnahmen drängen lassen.
  • sicherstellen, dass die Entscheidungen, die sie heute treffen, dem Kind offen und ehrlich kommuniziert werden können, wenn es älter ist.
  • wissen, dass das Verheimlichen von Informationen über den Körper des Kindes vor diesem die Eltern-Kind-Beziehung schwer belasten kann.
  • umfassende Informationen über Patient*innenrechte und die intergeschlechtlichen Merkmale des Kindes einholen.
  • jede Untersuchung und jedes Gespräch mit Professionellen dokumentieren.

Mehr Informationen für Eltern finden sich – leider nur auf Englisch – in dem Text I am a parent / friend.