Inter* in Bildung und Lehre integrieren

Von Andreas Hechler (Bildungsreferent, Berlin)

Hier finden Sie konkrete Hinweise, wie Sie inter* Kinder und Jugendliche in ihrer Bildungseinrichtung unterstützen und wie Sie das Thema in Ihre Arbeit einbinden können.

Mehr zur Haltung und Voraussetzungen zu geschlechterreflektierter Arbeit finden Sie hier. Wir haben zudem auch Dos und Don‘ts für Lehrkräfte und Pädagog*innen zusammengestellt.

Inter* in Bildungssettings

Inter* Kindern und Jugendlichen kann aus verschiedenen Gründen in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen Diskriminierung widerfahren – auch wenn sie nicht geoutet sind. Auslöser können beispielsweise „untypische“ Pubertätsverläufe und körperliche Merkmale sein, erzwungenes Verstecken der eigenen Geschlechtlichkeit oder Fehlzeiten aufgrund von medizinischen Behandlungen. Zugleich kann die Resilienz, also die Widerstandskraft gegenüber Diskriminierung, aufgrund eines geringen Selbstbewusstseins und einer Tendenz zur Selbstisolation als Folgen medizinischer Eingriffe und gesellschaftlichem Schweigetabu minimiert sein. Dazu können mangelnde Identifikationsmöglichkeiten mit Peers kommen und ganz generell wenige Freundschaften. Dies alles kann zu enormem Stress, Verhaltensauffälligkeiten, massiven Mobbing- und Diskriminierungssituationen beitragen, zu Leistungseinbußen durch psychische Beeinträchtigungen und Schulausfall bis hin zum Schulabbruch führen.

Die genannten Schwierigkeiten haben zur Folge, dass intergeschlechtliche Menschen häufig unterdurchschnittlich abschneiden und ihre Potenziale nicht voll entwickeln können, was einen großen Einfluss auf den weiteren Bildungsweg und die Lebensplanung hat.

Es ist wichtig, diese Hintergründe zu verstehen und sich unmissverständlich und unterstützend an der Seite von Inter* zu positionieren. Diese Haltung sollte auch in der Arbeit mit Eltern vermittelt werden.

Empowerment UND Sensibilisierung

Lern- und sonstige Gruppen sind grundsätzlich heterogen, das gilt auch beim Thema Intergeschlechtlichkeit. Wenn keine geouteten inter* Personen anwesend sind – das dürfte die Regel sein – heißt das nicht, dass keine intergeschlechtlichen Menschen anwesend sind. Auf einer Haltungsebene sollte grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sowohl inter- als auch endogeschlechtliche Menschen (also Menschen, die nicht intergeschlechtlich sind) Teil von Lerngruppen und pädagogischen Settings sind.

Endogeschlechtliche Kinder und Jugendliche benötigen zumeist Sensibilisierung für das Thema Intergeschlechtlichkeit und eine Erweiterung ihres Wissens. Intergeschlechtliche Kinder und Jugendliche sind in aller Regel sensibilisiert – für sie können Empowerment-Angebote eine wichtige Ressource sein.

Die beiden Ansätze Sensibilisierung und Empowerment können gut zusammenpassen, es kann sich aber auch um ein Spannungsfeld handeln, das widersprüchlich und pädagogisch nicht einfach zu handhaben ist. In bestimmten Situationen kann es beispielsweise sinnvoll sein, Gruppen zu trennen, sofern es geoutete inter* Personen gibt. Das komplexe Spannungsfeld aus Unsichtbarkeitsdynamiken, Empowerment und Sensibilisierung wird in der Handreichung Pädagogik geschlechtlicher, amouröser und sexueller Vielfalt – Zwischen Sensibilisierung und Empowerment umfassend erörtert

Implizite Thematisierung von Intergeschlechtlichkeit

Intergeschlechtlichkeit kann implizit oder explizit thematisiert werden.

Bei impliziter Thematisierung werden inter* Personen als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft in Schrift und Bild dargestellt. Sie kommen als alltäglicher Teil gesellschaftlichen Lebens vor, ohne dass dies in positiver oder negativer Weise zum Thema wird und auch nicht nur dann, wenn es um Geschlechterthematiken geht.

Der impliziten Thematisierung von Intergeschlechtlichkeit muss häufig eine explizite zur Seite gestellt werden, da Intergeschlechtlichkeit implizit in aller Regel nicht vorkommt und die Unsichtbarmachung des Themas ansonsten ihre Fortsetzung fände.

Explizite Thematisierung von Intergeschlechtlichkeit

Bei der expliziten Thematisierung von Intergeschlechtlichkeit werden inter* Lebensweisen sichtbar gemacht und der gesellschaftliche Umgang mit Intergeschlechtlichkeit thematisiert. Dabei sind einige Aspekte zu beachten, die auf die generelle Schwierigkeit verweisen, zu Diskriminierung zu arbeiten, ohne dabei Diskriminierung zu reproduzieren.

1. Es sollte bei der Behandlung des Themas medizinisches/biologisches Wissen nicht am Anfang und nur in geringen Dosen in kritischer Absicht reproduziert werden. Es ist nur schwer möglich, mit dem medizinischen Modell der Syndrome und Pathologien inter* Personen anders als über diesen medizinischen Blick wahrzunehmen. Als Menschen mit ganz individuellen Interessen, Vorlieben, Erfahrungen und Lebensrealitäten geraten sie dadurch aus dem Blick.

2. Mit dem Argument des letzten Satzes sollten inter* Körper auch nicht zur Dekonstruktion biologischer Zweigeschlechtlichkeit funktionalisiert werden, auch wenn das ein ehrenwertes und wichtiges Anliegen ist.

3. Die Folgen medizinischen und juristischen Handelns und die Gewalt, die inter* Menschen angetan wurde/wird, sollte sichtbar werden, ebenso die Anliegen, Forderungen und Widerstandsbewegungen dagegen. Dabei ist große Sensibilität vonnöten; bloßstellende Nacktfotos oder ähnliche Viktimisierungen sind in jeder Hinsicht zu vermeiden. Der Fokus liegt nicht auf Pathologien und Syndromen, sondern auf Diskriminierung und Menschenrechten. Dabei sollten intergeschlechtliche Menschen als Expert*innen und Autoritäten zu Wort kommen (als Referent*innen, Autor*innen, Erzähler*innen, Filmemacher*innen, …), nicht bloß als „Betroffene“ oder gar „Freaks“.

4. Darüber hinaus sollten intergeschlechtliche Menschen als eigenständige Personen in den Vordergrund treten, als Individuen mit eigenen Wünschen, Bedürfnissen, Fähigkeiten etc., die nichts mit ihrer Intergeschlechtlichkeit zu tun haben.

An dieser Aufzählung wird deutlich, dass die Stimmen intergeschlechtlicher Menschen nötig sind. Sie sind nötig, da es ansonsten zu einem Sprechen über anstelle eines Sprechens mit kommen kann, wenn das Thema aus einer nicht-intergeschlechtlichen Perspektive aufgegriffen wird, und das kann verletzend und belehrend sein. Dies umso mehr, wenn intergeschlechtliche Personen anwesend sind, die sich vor potenzieller Diskriminierung schützen wollen und sich deswegen nicht outen. Intergeschlechtliche Stimmen können gut über Clips, Dokumentationen, Texte, Social Media etc. in Lehr- und Lernkontexte geholt werden.

Intersektionalität

Intergeschlechtliche Menschen und ihre Erfahrungen können sehr unterschiedlich sein; es gibt nicht die eine Inter* Erfahrung und die Repräsentation einer inter* Person kann zwar eine Tendenz abbilden, ist aber nicht stellvertretend für andere. Wie inter* Menschen ihre Intergeschlechtlichkeit (er)leben, ist genauso divers wie endo* Menschen ihre Endogeschlechtlichkeit (er)leben.

Die Unterschiede können individuell-persönlich oder auch gruppenbezogen sein, abhängig von anderen Dimensionen der Ungleichheit wie sexuelle Orientierung, Herkunft, Religion, Behinderung, Klasse und dergleichen mehr. Es ist wichtig, die Vieldimensionalität und Unterschiedlichkeit von Lebenssituationen und mehrdimensionale Formen der Diskriminierung wie Privilegierung wahrzunehmen. Eine Schwarze inter* Person wird sehr wahrscheinlich andere Erfahrungen machen als eine weiße, und eine lesbisch lebende intergeschlechtliche Frau in einer Großstadt andere Erfahrungen als eine als inter lebende intergeschlechtliche Person auf dem Land, die auf Männer steht.

Es sollten von daher immer mehrere Biografien von inter* Personen gezeigt und explizit die individuellen Unterschiede wie auch gruppenbezogenen Differenzen herausgearbeitet werden.

Rauszoomen: Geschlechternormen betreffen alle

Schlussendlich sollte der Fokus auf inter* Menschen wieder weggenommen und der gesellschaftliche Umgang mit Intergeschlechtlichkeit in einen größeren Kontext gestellt werden. Intergeschlechtlichkeit ist lediglich ein Aspekt geschlechtlicher Vielfalt.

So können in Lehr‐ und Lernkontexten beispielsweise geschlechtliche und sexuelle Normen thematisiert werden, die alle Menschen betreffen, ohne dabei Unterschiedlichkeiten auszublenden. Schönheitsideale, Männlichkeits- und Weiblichkeitsanforderungen und dergleichen bedeuten für alle Menschen Zwang zu einer stereotypen Geschlechtspräsentation und ein vorprogrammiertes sich Reiben und Scheitern an den rigiden Normen der Zweigeschlechterwelt – auch die Körper und Genitalien von Menschen, die nicht als intergeschlechtlich klassifiziert werden, sind sehr unterschiedlich. Von daher bedeutet die kritische Beschäftigung mit Intergeschlechtlichkeit sowie eine Entlastung von Männlichkeits- und Weiblichkeitsanforderungen auch eine Entlastung für endo* Menschen und macht ihre Leben entspannter und individuell lebenswerter. Wenn Einrichtungen geschlechterreflektiert denken und handeln – von der Toilettenarchitektur über die Programm- und Innengestaltung bis hin zum eingestellten Personal und der benutzten Sprache – profitieren alle Kinder und Jugendlichen davon. Schulen und Einrichtungen der Kinder‐ und Jugendhilfe sind dementsprechend als Orte der Vielfalt zu begreifen, die dort sichtbar wird und gelebt werden kann.

Geschlechtliche Vielfalt umfasst nicht nur Trans* oder Inter*, sondern auch, wenn es „nur“ um „Männer“ und „Frauen“ geht – diese sind auch Teil geschlechtlicher Vielfalt. Intergeschlechtlichkeit kann daher gesondert oder als eines von mehreren relevanten Themen in Lehr‐/Unterrichtseinheiten zu Geschlechterverhältnissen, Sexualpädagogik, Diskriminierung oder einem anderen Überthema integriert werden. Es geht dabei nicht nur um eine rationale, wissensbasierte Auseinandersetzung, sondern auch um eine Reflexion der eigenen Emotionen zum Thema, beispielsweise in Form von Solo-Reflexion und Kleingruppenarbeiten. Lerngruppen sollten diesbezüglich bestärkt werden, über das eigene geschlechtliche Dasein und dessen Gewordenheit nachzudenken. In diesem Zusammenhang kann thematisiert werden, dass Geschlecht pränatal bzw. bei Geburt zugewiesen wird, zugleich aber einer historischen Wandelbarkeit unterliegt.

Unterrichtsfächer

Biologie: Das Thema Intergeschlechtlichkeit sollte nicht nur im Biologieunterricht behandelt werden. Wenn, sollte deutlich werden, dass alle menschliche Körper sehr unterschiedlich sind und diese in einer zweigeschlechtlichen Logik nicht aufgehen.

Geschichte: Im Rahmen einer Hermstory, einer inter* Geschichtsschreibung, kann prominenten inter* Personen nachgespürt werden. Hierfür bietet sich u. a. Herculine Barbin an, für die*den es auch Unterrichtsmaterialien gibt.

Englisch: Hier könnten verschiedene Videos von Aktivist*innen aus den USA, etwa der TED Talk von Emily Quinn oder der Power Talk von Steph Lum angeschaut und diskutiert werden.

Französisch: Auch hier bieten sich u. a. die Memoiren der*s Herculine Barbin an.

Ethik/Politik: Hier können aktuelle Auseinandersetzungen wie beispielsweise Rechtsreformen diskutiert werden, es können aber auch inter* Bewegungen als soziale/politische Bewegungen und Kämpfe intergeschlechtlicher Menschen thematisiert werden.

Ein Video, was verschiedene Aspekte von Inter* beleuchtet und dadurch für verschiedene Unterrichtsfächern geeignet ist, findet sich auf der Seite von Planet Schule.

Weitere Anregungen zur Unterrichtsgestaltung finden sich u.a. in einem Beitrag von Ursula Rosen in der Broschüre “Schule lehrt/lernt Vielfalt“ (S. 172–174). Eine Sammlung von Stimmen intergeschlechtlicher Menschen findet sich im Text zu Stimmen – Vorbilder – Empowerment.