Medizinische Aspekte von Intergeschlechtlichkeit

Gesundheit und Medizin können für inter* Menschen und deren Angehörige mehr oder weniger wichtige Themen sein. In der Regel werden im Verlauf des Lebens viele intergeschlechtliche Menschen Kontakt mit dem Medizinsystem haben und mit der Frage nach einer Diagnose konfrontiert werden.

Viele intergeschlechtliche Menschen und Eltern intergeschlechtlicher Kinder haben keine besonders guten Erfahrungen mit Ärzt*innen gemacht. Dennoch kann die Medizin helfen, den eigenen Körper besser zu verstehen und gut für sich zu sorgen. Die Frage nach einer biologischen Elternschaft von intergeschlechtlichen Menschen kann nicht pauschal beantwortet werden. Ob ein intergeschlechtlicher Mensch ein Kind zeugen oder austragen kann, muss individuell geklärt werden. Sprechen Sie mit dem*der Ärzt*in Ihres Vertrauens über die Möglichkeiten.

Wie (aus biologischer Sicht) Geschlecht entsteht und was das für den Körper bedeutet, finden Sie hier.

Im Folgenden finden Sie nun Informationen zu verschiedenen Diagnosen und was diese für den Körper bedeuten. Weiter unten finden Sie noch allgemeine Informationen zu Hormoneinnahme, zu Krebsrisiken und zu Operationen. Wenn Sie weitere Fragen zu Diagnosen und den möglichen Konsequenzen haben, können Sie sich immer an Selbstorganisationen wenden. Adressen finden Sie hier. Dort finden Sie auch weitere Beratungsmöglichkeiten zu Intergeschlechtlichkeit in NRW. Trauen Sie sich zu fragen – dafür sind Hilfsangebote da!

Mögliche Diagnosen

„5-α-Reduktase-Typ-II-Mangel“ und „17-β-Hydroxylase-Typ-III-Defekt“

Was heißt das?

Bei einem „5-α-Reduktase-Mangel“ und beim „17-β-Hydroxylase-Typ-III-Defekt“ werden die männlichen Geschlechtsmerkmale, etwa der Penis, nicht oder nur schwach ausgeprägt, sodass es zunächst zu einem weiblichen Erscheinungsbild kommt. Später, zu Beginn der körperlichen Reife, der Pubertät, entwickelt der Körper sich dann zunehmend männlich.

Was bringt die Pubertät mit sich?

In der Pubertät kommt es vermutlich zu einer deutlichen Vermännlichung des Erscheinungsbildes, das heißt, es kann beispielsweise zu Bartwuchs oder zum Stimmbruch kommen und auch das Genital kann nochmal wachsen. Je nachdem, wie sich ein*e Jugendliche*r damit fühlt, könnten die Themen Geschlechtsidentität und (sexuelle und geschlechtliche) Selbstbestimmung besonders wichtig werden.

Worauf ist zu achten?

Zunächst bleibt die Entwicklung des Kindes abzuwarten. Generell raten wir zu Sensibilität und Offenheit gegenüber möglichen (körperlichen) Veränderungen. In jedem Fall können Sie Hilfe bei Selbstorganisationen und bei Bedarf auch bei medizinischen Fachleuten suchen, die Erfahrung mit inter* Patient*innen haben. In den Selbstorganisationen finden Sie Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Bei medizinischen Fachleuten können Sie individuell beraten und bei Entscheidungen fachlich unterstützt werden. Beratungsangebote für NRW finden Sie hier.

„Adrenogenitales Syndrom“ (AGS)

Was heißt das?

In der Nebenniere werden für den Körper wichtige Hormone wie zum Beispiel Cortisol (das „Stresshormon“) oder Aldosteron, ein Hormon, das den Salzhaushalt im Körper reguliert, gebildet. Zusätzlich werden dort aber auch Androgene produziert, diejenigen Hormone, die für einen männlichen Körper sorgen (z. B. Testosteron). Beim sogenannten „AGS“ kommt es in der Nebenniere zu einer niedrigeren Produktion von Cortisol und Aldosteron, die der Körper mit einer vermehrten Produktion von Androgenen ausgleicht. Dadurch kommt es – je nach Ausprägung – zu einem eher männlichen Erscheinungsbild und äußeren Genital, bei gleichzeitig männlichen oder weiblichen inneren Geschlechtsorganen.

Was bringt die Pubertät mit sich?

Je nach Ausprägung des „AGS“ kann es durch den hohen Testosteron-Spiegel bei Kindern zu einer frühzeitigen Pubertät mit Hochwuchs, Stimmbruch und stark ausgeprägter Behaarung kommen. Kinder mit schwächer ausgeprägtem „AGS“ fallen häufig erst durch das Ausbleiben der Regelblutung bei einem ansonsten weiblichen Körper auf.

Worauf ist zu achten?

Durch die niedrige Konzentration der anderen Hormone der Nebennieren kann es zu therapie-bedürftigen Symptomen wie einem lebensbedrohlichen Salzverlust kommen. Dann ist eine lebenslange Hormontherapie nötig.

Formen der Androgenresistenz („CAIS“, „PAIS“, „MAIS“)[1]

Was heißt das?

Androgene sind die Stoffe im Körper, die für die Entwicklung eines männlichen Körpers sorgen (z.B. Testosteron). Wenn der Körper diese Stoffe nicht bilden oder ihre Informationen nicht verarbeiten kann, also gegen sie resistent ist, kommt es teilweise oder gar nicht zur Ausprägung eines eher männlichen Erscheinungsbildes.

Was bringt die Pubertät mit sich?

Hier kommt es ganz darauf an, ob eine komplette Androgenresistenz („CAIS“) oder eine graduell partielle Androgenresistenz vorliegt („PAIS“, „MAIS“). Wenn ein Körper weitestgehend androgenresistent ist, ist eine Entwicklung im weiblichen Geschlecht zu erwarten. Allerdings kommt es zu einem Ausbleiben der Regelblutung. Liegt hingegen nur eine partielle Androgenresistenz vor, können in der Pubertät Merkmale auftreten, die eher dem männlichen Geschlecht zugeschrieben werden, z. B. Bartwuchs oder Stimmbruch.

Worauf ist zu achten?

Bei Formen der Androgenresistenz kann ein erhöhtes Krebsrisiko der Keimdrüsen (Gonaden) bestehen. Bei „CAIS“, also einer kompletten Androgenresistenz, liegt das Risiko in einem sehr geringen Bereich, sodass diese belassen werden können, wo sie sind. Wenn allerdings die Diagnose „PAIS“ gestellt wurde, sollte eine wachsame Zusammenarbeit mit einer*m Ärzt*in des Vertrauens gepflegt werden, sodass die Entwicklung der Keimdrüsen im Blick behalten werden kann. Dazu werden regelmäßige Ultraschalluntersuchungen des Bauchraums gemacht.

„Gemischte Gonadendysgenesie“

Was heißt das?

Bei einer „Gemischten Gonadendysgenesie“ produziert der Hoden wenig Testosteron. Die Funktionen des Hodens sind aber häufig so ungleichmäßig verteilt, dass das innere und äußere Geschlecht unterschiedlich sein kann. Zudem kann es zu Kleinwuchs kommen.

Was bringt die Pubertät mit sich?

Bei Kindern mit einer „Gemischten Gonadendysgenesie“ bleibt im Pubertätsalter die Brustentwicklung aus und es kommt nicht zum Einsetzen einer monatlichen Regelblutung.

Worauf ist zu achten?

Es ist ratsam, Hoden (regelmäßig) untersuchen zu lassen (i. d. R. durch Ultraschalluntersuchungen), da diese durch die unregelmäßige Hormonversorgung einem höheren Krebsrisiko ausgesetzt sind.

„Klinefelter-Syndrom“

Was heißt das?

Das sogenannte „Klinefelter-Syndrom“ bedeutet, dass Menschen ein oder mehrere zusätzliche Geschlechts-Chromosomen haben. 80% der Menschen mit der Diagnose Klinefelter-Syndrom haben ein zusätzliches X-Chromosom und daher den Chromosomensatz 47, XXY.[2] Andere Variationen können 48, XXXY, 49, XXXXY oder 48, XXYY sein. Es kann aber auch sein, dass nicht alle Zellen denselben Chromosomensatz in sich tragen. Dieses sogenannte Mosaik bedeutet, dass in einigen Zellen der Karyotyp (also die Gesamtheit der Chromosomeneigenschaften) beispielsweise 47, XXY ist und in anderen Zellen 46, XY.

Was bringt die Pubertät mit sich?

Die Auswirkungen dieser genetischen Variationen können sich in ganz unterschiedlich starken Ausprägungen zeigen. Oft kommt es daher nicht zu einer frühen Diagnose. Die meisten Menschen, die später eine „Klinefelter“-Diagnose gestellt bekommen, durchleben eine unauffällige Pubertät. Viele haben allerdings vergleichsweise kleine, feste Hoden, die manchmal auch eine unübliche Lage aufweisen. Diese Hoden produzieren wenig Testosteron und führen damit zu einem chronischen Testosteronmangel. Dadurch kommt es zum Beispiel zu einem geringen Bartwuchs und anderer Körperbehaarung. Außerdem kommt es vor, dass sich Brüste ausbilden.

Worauf ist zu achten?

Da mit der chromosomalen Variation auch Beschwerden des Bewegungsapparats, Blutarmut oder ein Hochwuchs einhergehen können, ist es wichtig, sensibel für die Signale des Körpers zu sein, ihn gut zu kennen und zu wissen, ob es besonderer Unterstützung bedarf. Sollten Sie Elternteil sein, ermöglichen Sie Ihrem Kind, vertrauensvoll und sicher über sich zu sprechen. Mit dem sogenannten Klinefelter-Syndrom können auch Lernschwierigkeiten einhergehen.

„Ovotestikuläres DSD“

Was heißt das?

„Ovotestikulär“ heißt, dass gleichzeitig ovarielles und testikuläres Gewebe vorliegt. Ovarielles Gewebe ist z. B. Eierstockgewebe, testikuläres Gewebe ist z.B. Hodengewebe. Zusammengesetzt ergeben die beiden Begriffe „ovotestikulär“. Es handelt sich also um eine Entwicklung, in der weibliche und männliche Merkmale zu finden sind. Die Erscheinungsbilder, die sich äußerlich ergeben, sind dabei sehr vielfältig.

Was bringt die Pubertät mit sich?

In der Pubertät kommt es häufig zu Veränderungen des Körpers. Diese hängen aber vom individuellen Körper ab und wie die Verteilung von ovariellem und testikulärem Gewebe ist.

Worauf ist zu achten?

Wie bei allen Diagnosen sollten keine Operationen stattfinden, die nicht lebensrettend sind. Die Entscheidungsfähigkeit des Kindes, ob der Körper überhaupt verändert werden sollte, muss abgewartet werden. Ein früher Eingriff läuft Gefahr, schwerwiegende negative Folgen zu haben.

„Ullrich-Turner-Syndrom“

Was heißt das?

Beim sogenannten „Ullrich-Turner-Syndrom“ handelt es sich um eine numerische Variation der Geschlechtschromosomen. Dabei hat die Person entweder „nur“ ein X-Chromosom, also den Chromosomensatz 45, X0, oder es liegt ein sogenannter Mosaikchromosomensatz vor, das heißt, einige Zellen tragen den Chromosomensatz 45, X0 und andere 46, XX oder 46, XY.

Was bringt die Pubertät mit sich?

Oft geht eine geringe Produktion von sogenannten Sexualhormonen mit der Diagnose „Ullrich-Turner Syndrom“ einher, was sich auf die Möglichkeit einer biologischen Elternschaft auswirken könnte. Die Einnahme von zusätzlichen Sexualhormonen könnte bei dem Wunsch einer Schwangerschaft helfen. Informieren Sie sich daher bei spezialisierten Endokrinolog*innen, ob in Ihrem individuellen Fall eine biologische Elternschaft möglich ist. Auch Selbstorganisationen können mit ihren Erfahrungen weiterhelfen.

Worauf ist zu achten?

Durch die genetische Variation kann es zu verschiedenen körperlichen Folgen kommen. Bei Kindern, die mit dem „Ullrich-Turner-Syndrom“ diagnostiziert werden, kann es vermehrt zu einer geringen Körperhöhe/Körpergröße kommen. Auch kurze Finger- oder Fußnägel, ein kleiner Unterkiefer oder ein breiter Brustkorb können auftreten. Zudem gibt es ein höheres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nieren-, Schilddrüsen-, Skelett-, Ohren-, Augen- und Darmerkrankungen. Bei einem Mosaik-Chromosomensatz findet die Diagnose oft erst im Jugend-/Erwachsenenalter statt.

Wann ist eine Therapie mit Hormonen sinnvoll?

Hormone haben vielfältige Aufgaben innerhalb des Körpers. Die Zufuhr von externen Hormonen will also immer gut überlegt sein, denn Hormone wirken immer vielfältig und nicht nur in einem kleinen Teilbereich des Körpers. Bei manchen körperlichen Voraussetzungen ist die Einnahme von Hormonen allerdings wichtig für die Gesundheit.  

Grundsätzlich kann es viele Gründe für eine sogenannte Hormontherapie geben. Die häufigsten oder dringlichsten sind aber wohl (1) die Vermeidung von Folgeerkrankungen aufgrund von Hormonmangel, z. B. Osteoporose, (2) die Zufriedenheit jeder*s Einzelnen mit der eigenen körperlichen (Geschlechts-)Entwicklung.

Krebsrisiko – wichtig, aber nicht lebensbestimmend

Das Thema Krebsrisiko ist eines, das vielen Menschen mit einer geschlechtlichen Variation schon begegnet ist. Und wahrscheinlich ist es auch das Thema, zu dem es am wenigsten abgesicherte Informationen gibt.

Es kann sein, dass die Variation das Risiko erhöht, dass sich in den Keimdrüsen bösartige Tumore entwickeln. Lange Zeit kursierte die Annahme, dass das Risiko grundsätzlich erhöht sei, wenn sich die Keimdrüsen im Bauchraum befinden und dort einer erhöhten Temperatur ausgesetzt sind. Aus diesem Grund wurde häufig empfohlen, die Keimdrüsen (Gonaden) operativ zu entfernen (Gonadektomie). Dies hat aber schwerwiegende Folgen für den Körper. So müssen ein Leben lang Hormone eingenommen werden, wenn die Keimdrüsen entfernt werden. Forschung dazu, wie diese Hormone bei Menschen mit unterschiedlichen intergeschlechtlichen Körpern wirken, gibt es allerdings kaum.

Statt die Keimdrüsen operativ zu entfernen, sollte eine regelmäßige Kontrolle erfolgen. Durch regelmäßige Ultraschalluntersuchungen der Keimdrüsen und regelmäßiges Abtasten des Bauches können gegebenenfalls Veränderungen an den Gonaden festgestellt werden. Sprechen Sie Ihre individuelle Situation mit einem*r Ärzt*in Ihres Vertrauens durch. Achten Sie darauf, dass hier keine pauschalen Empfehlungen gegeben werden. Es gibt zwar Tendenzen, welche Variationen ein höheres Krebsrisiko bergen, durch Forschung gesicherte Zahlen gibt es allerdings nicht.

Operationen

Das Thema Operationen taucht im Kontext von Intergeschlechtlichkeit immer wieder auf. Lange Zeit, und leider auch bis heute, wurde von Mediziner*innen empfohlen, das Genital eines Kindes zu operieren, wenn es anders aussah als erwartet und nicht in das gesellschaftlich vorgegebene Bild eines Mädchens oder eines Jungens passte. Diese Operationen, die nichts mit gesundheitlichen Aspekten zu tun haben, schaden Menschen sehr. Häufig kommt es zu Folgeproblemen. Beispielsweise können Operationsnarben wieder aufgehen oder Probleme beim Wasserlassen auftreten. Zudem ist es für viele Menschen, die operiert wurden, belastend, aus nicht gesundheitsfördernden Gründen operiert worden zu sein.

Es ist schwer, an die bedingungslose Liebe der Eltern zu glauben, wenn es scheinbar doch die Bedingung gibt, dass der eigene Körper für andere Menschen „normal“ aussehen soll: Das Gefühl, nicht zu wissen, wie der Körper heute wäre, wenn die Operationen nicht stattgefunden hätten …; sich zu fragen, ob man anders wäre, wenn man selbst hätte über den eigenen Körper entscheiden können …; all das schadet der seelischen Gesundheit und kann zu schwerwiegenden Problemen führen.

Mittlerweile sind diese Operationen ohne Einwilligung der Kinder und Jugendlichen, die vor allem dazu dienen sollen, sie an die gesellschaftliche Norm anzupassen, als Menschenrechtsverletzungen anerkannt. Doch gibt es immer noch Ärzt*innen, die Eltern empfehlen, ihr Kind operieren zu lassen, z. B., damit es später vermeintlich „bessere“ sexuelle Erfahrungen machen kann. Solche Operationen dürfen niemals ohne das Einverständnis des Menschen stattfinden. Ein gesetzliches Verbot von uneingewilligten Operationen an intergeschlechtlichen Menschen wäre ein wichtiger Schritt, um den Menschenrechtsverletzungen an inter* Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken. Neben den uneingewilligten Operationen können aber auch Operationen stattfinden, für die sich der Mensch, den sie betreffen, selbst entschieden hat. Dabei ist es wichtig, sich im Vorhinein gut zu informieren, ob diese von der Krankenkasse erstattet werden und welche Konsequenzen mit der Entscheidung einhergehen. Über die Rechte gegenüber der Krankenkasse können Sie hier mehr erfahren.


[1] CAIS – Complete Androgen Insensitivity Syndrome.

  PAIS – Partial Androgen Insensitivity Syndrome.

  MAIS – Minimal Androgen Insensitivity Syndrome.

[2] Die Zahl gibt die Anzahl der gesamten Chromosomen an.